Fear and Loathing im Gesundbrunnen-Center | Clint geht unter Menschen
Verkaufsoffener Sonntag. Und ich brauche dringend eine Druckerpatrone. Das bedeutet natürlich nur, dass ich unorganisiert bin und alles verdient habe, was nun auf mich zukommt. In Dantes Inferno gibt es eine Art Speckgürtel, der sich um die neun Kreise legt. Ein graues, lustloses Zwielicht, in dem die Langweiler abhängen, für die sich sogar die Hölle zu schade ist. Daran muss ich denken, als ich das Gesundbrunnen-Center betrete.
Das Prekariat grüßt mit seinen Gesichtern: Frustrierte Familien, die den ersten Streit des Tages bereits hinter sich haben, treiben träge durch die neonbeleuchteten Gänge. Väter im Sonntagsstaat von Camp David. Kinder mit Plastik beladen. Auf den Bänken kauern verarmte Rentner, sammeln Nüsse in ihren Backen und schauen schuldbewusst in die Gegend. Es riecht wie im Klassenzimmer, nach Weichspüler und fettigem Haar.
Fielmann, Deichmann, Blume 2000. Hier bin ich richtig, einmal hin alles drin. Es geht nur langsam voran, ich bin geblendet von Lichtreflexen, die sich in geschmacklosen Piercings brechen. Hinter mir türkische Teenager, aus deren Handys maskuline Musik dröhnt. Vor mir eine arische Frauengruppe in Trainingsanzügen: Drei Generationen des gleichen Genoms, blondiert, Undercuts an speckigen Schädeln. Die Wedding-Version von DaVincis Anna selbdritt.
"Vorbei an Flachbildfernsehern, 4K, als würde Scheiße besser aussehen, je höher die Auflösung ist."
Ich kann noch nicht mal das Saturn-Schild über den Köpfen der Masse erkennen, doch schon jetzt macht mein Selbsterhaltungstrieb mir hysterische Vorwürfe. Kurz überlege ich, ob ich bei Thalia Luft schnappen soll – der einzige Laden, der leer ist. Dann schubst der Pöbel mich weiter. Runners Point, Yves Rocher, H&M. Ein fliegender Händler will mir sein Duftwasser andrehen. Ich bin nah dran, ihm ein Puzzle in seine Brille zu kloppen. Kann nicht mehr klar denken, gehe voll aus dem Leim. Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
Vor der Hunkemöller-Filiale (sexy Dessous, der feuchte Traum des White Trash) tut sich eine Lücke im Personenstrom auf. Ich stoße hindurch, irgendein Nudelauge rempelt mich von der Seite, doch ich verliere mein Ziel nicht aus dem Blick. Rollband ins Untergeschoss, Slalom um Gehhilfen und Kinderwägen. Vorbei an Flachbildfernsehern, 4K, als würde Scheiße besser aussehen, je höher die Auflösung ist. Vorbei an Smartphones und Kameras, Druckern und Mäusen. Dann die Höchststrafe in Form eines Plaste-Anhängers: „HP Nr. 56. Ware leider vergriffen.“

Leid ohne Sinn. Studiere ich seit achtzehn Semestern. Ich kann den Rückzug also mit einer gewissen Routine antreten. Wähle den Weg durch die Fressmeile im Keller. Sehe die Erzeugnisse von Subway, Nordsee und Dunkin’ Donuts in gelangweilten Mäulern verschwinden. Bewundere im Vorbeigehen die Auslage im Truthahn-Shop. Gesund, weil mager. Beliebt, weil das Fleisch nur noch entfernt an ein Tier erinnert.
Nochmal Stau vor der Rolltreppe. 20 % bei Bijou Brigitte wegen Halloween. Da kann man sicher viele Accessoires fürs Kostüm finden. Die Leute drängen in Strömen hinein. Es gibt jetzt kein Halten mehr. Schalksgesinde, die, Empörer nicht, noch Gott getreu für sich nur wollten stehn. Die Himmel spein sie aus, sonst trübt’s ihr Licht, noch mag die tiefe Hölle sie ertragen.
Als ich wieder ins Freie trete, klopft bereits eine Posttraumatische Belastungsstörung an mein Seelentürchen. Dabei brauch ich gar nicht so zimperlich sein. Selbst schuld, wer am heiligen Sonntag, wer überhaupt vor die Tür geht. Der Mensch ist wirklich ein komisches Tier.
Die nächste Ausgabe von Clint geht unter Menschen – eine misanthropische Seifenoper lest ihr demnächst auf BERLINMUSIC.TV